DR. MARIE-LUISE WOLFF
UND OBERBÜRGERMEISTER
JOCHEN PARTSCH
ALLE AN EINEN
TISCH HOLEN
Kooperation plus Koordination gleich Klimaschutz – das ist die Formel, mit der Darmstadts scheidender Oberbürgermeister auf kommunaler Ebene die Energiewende vorangebracht hat. Und nicht nur die: Auch wirtschaftlicher Fortschritt und nachhaltiges Wachstum lassen sich am ehesten bewerkstelligen, wenn alle Beteiligten miteinander im Dialog sind. Ein Gespräch zwischen OB Jochen Partsch und der Vorstandsvorsitzenden der ENTEGA AG, Dr. Marie-Luise Wolff.
,,Wer klimafreundlich lebt, muss dafür nicht zurück in die Steinzeit.“
Dr. Marie-Luise Wolff

Frau Dr. Wolff, Herr Partsch – angeblich steckt ja in jeder Krise eine Chance. Trifft das nach Ihrer Beobachtung auch auf das Krisenjahr 2022 zu? Haben Sie ganz persönlich neue Chancen entdeckt?

M.-L.W. Ich fand es zum Beispiel durchaus beeindruckend, wie schnell es uns gelungen ist, aus der Abhängigkeit von Russland rauszukommen. Plötzlich war dann doch vieles möglich, was bis dahin als unmöglich galt. Wir haben besonders beim Thema Flüssiggas-Terminals das „Deutschland-Tempo“ entdeckt. Das könnte eine Chance sein – wenn wir sie nutzen.

J.P. Für mich hat das Jahr 2022 vor allem die Chance eröffnet, unseren Realitätssinn wieder zu schärfen. In der langen Friedenszeit hatten viele vergessen, wie wenig selbstverständlich die Grundlagen unseres Lebens in Europa sind. Freiheit, Frieden, Vielfalt – das alles gibt es nur, wenn wir wachsam bleiben und diese Werte im Zweifel auch verteidigen.

Wie realistisch ist es denn Ihrer Meinung nach, dass die Menschen dazu bereit sind und gegebenenfalls auch Einschränkungen hinnehmen?

J.P. Da erleben wir hier vor Ort ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite gibt es bei uns in Darmstadt und der Region bewegende Erfahrungen. So hat mich 2022 die große und auch andauernde Hilfsbereitschaft der Stadtgesellschaft tief beeindruckt, die übrigens bis heute anhält. Ob Privatpersonen oder Unternehmen wie ENTEGA: Alle haben sich solidarisch gezeigt und tun das immer noch. Bei zahllosen Spendenaktionen etwa für unsere Partnerstadt Uschhorod, aber auch, wenn es hier vor Ort sozusagen ans Eingemachte geht. Bei der Unterbringung von Geflüchteten und bei der Integration in Kitas oder Schulen. Klar macht das auch Probleme. Aber damit gehen alle sehr konstruktiv um.

Und auf der anderen Seite?

J.P. Auf der anderen Seite sehen Sie bei einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung wie dem Klimaschutz, zu dem zentral natürlich auch eine ökologische Mobilitätswende gehört, mitunter einen erstaunlichen Mangel an Solidarität. Wenn da plötzlich der vermeintlich „eigene“ Parkplatz vor der Haustür betroffen ist, führt das schon mal zu heftigem Protest. Dabei ist doch klar, dass wir es uns angesichts der schon jetzt spürbaren Klimaveränderungen einfach nicht mehr leisten können, mit Zweit- und Drittwagen durch die Stadt zu fahren.

Stichwort Klimaschutz, Frau Dr. Wolff: Für wie bedeutsam halten Sie Klimaschutzmaßnahmen auf regionaler oder gar kommunaler Ebene – angesichts des objektiv eher geringen Einflusses, den eine CO2-Reduktion z. B. in Darmstadt auf den allgemeinen Gang der Dinge hat?

M.-L.W. Ich halte die kommunale Ebene für sehr bedeutsam. Aus mindestens zwei Gründen. Erstens, weil wir hier vor Ort am besten demonstrieren können, dass ein Wandel hin zu grüner Energie und zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft machbar ist. Das ist ganz entscheidend, dass die Menschen konkret erleben: Wer klimafreundlich lebt, der muss dafür nicht zurück in die Steinzeit. Und zweitens ist die kommunale Ebene aus technisch-organisatorischen Gründen von großer Bedeutung. Besonders die Wärmewende können wir nur „vor Ort“ und nicht am grünen Tisch in Berlin organisieren. Weil die Akteure in der Stadt oder im Landkreis die Verhältnisse am besten kennen. Sie wissen, wie viel Wärme wo und wann gebraucht wird. In den privaten Haushalten, in öffentlichen Gebäuden, in Industrieanlagen. Und da muss dann ganz eng am jeweiligen Bedarf geplant und gebaut werden.

,,Bis 2035 wollen wir in
Darmstadt komplett
klimaneutral sein.“
Jochen Partsch

Wie gut kommen Sie denn insgesamt beim Klimaschutz auf kommunaler Ebene voran?

J.P. Ziemlich gut. Seit 2010 haben wir in Darmstadt unseren CO2-Ausstoß um 38,5 Prozent gesenkt, also rund 15 Prozentpunkte mehr, als Deutschland insgesamt im selben Zeitraum geschafft hat. Bis 2035 wollen wir komplett klimaneutral sein. Das macht noch eine Menge Arbeit. Ich bin aber optimistisch, dass uns das gelingen wird. Denn wir sehen bisher genau das bestätigt, was Marie-Luise Wolff gerade angesprochen hat: dass wir auch auf klimafreundliche Weise wachsen können. Im selben Zeitraum ist nämlich die Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe in Darmstadt um 80,7 Prozent gewachsen – übrigens ist das das höchste Wachstum in der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main.

M.-L.W. Das zeigt ja ganz klar: Eine ökologische Ausrichtung macht sich auch wirtschaftlich bezahlt. Sie bremst das Wachstum nicht. Sie fördert sie sogar.

Damit das so bleibt, brauchen Sie aber auch Versorgungssicherheit für private und gewerbliche Kunden. Wie wollen Sie das allein mit Wind- und Sonnenenergie erreichen?

M.-L.W. Das werden wir mit Wind und Sonne wahrscheinlich nie zu 100 Prozent erreichen. Und deshalb brauchen wir zusätzlich auch neue, moderne Gaskraftwerke. Nur so bringen wir möglichst schnell die Kohlekraftwerke vom Netz. Und nur so können wir Strom und Wärme auch dann liefern, wenn Sonne und Wind Pause machen.

Also doch nur eine ,,halbe“ Energiewende?

M.-L.W. Die Gaskraftwerke werden deutlich weit weniger leisten müssen als die Hälfte des Energiebedarfs. Wir brauchen sie – alles in allem – nur rund 1.000 Stunden im Jahr –, um ansonsten drohende Blackouts zu vermeiden. Unter dem Strich hätten wir dann höchstens noch fünf Prozent des heutigen CO2-Ausstoßes. Und langfristig lassen sich die Gaskraftwerke ja sogar auf grünen Wasserstoff umstellen.

Herr Partsch, Sie waren jetzt rund ein Jahrzehnt Oberbürgermeister von Darmstadt. Wenn Sie zurückblicken: Gäbe es einen Tipp, den Sie anderen Kommunen und Gemeinden mit auf den Weg geben würden, um in Sachen Klimaschutz möglichst schnell voranzukommen?

J.P. Ich weiß nicht, ob ich anderen Tipps geben sollte. Ich kann nur sagen, was mir in all den Jahren bei diesem Thema hier immer sehr geholfen hat und das war das Prinzip Kooperation und Koordination in der Stadtgesellschaft. Man muss dafür sorgen, dass die Leute miteinander reden. So haben wir das beim Klimaschutz gemacht – von der Zusammenarbeit mit der ENTEGA bis hin zur Beratung für klimafreundliches Bauen, die wir gemeinsam mit der Handwerkskammer anbieten, ein bis heute bundesweites Vorzeige-Projekt, das vor neun Jahren von uns gegründet wurde und in dem heute rund 30 Menschen beschäftigt sind.

Wir haben das auch beim Thema Wissenstransfer so gemacht. Unser „runder Tisch Wissenschaft“ bringt regelmäßig Unternehmens- und Institutsleitungen aus allen relevanten Handlungsfeldern und Cluster unserer Stadt zusammen: von der TU Darmstadt, aus den Industrieunternehmen, aus dem Handwerk bis hin zu Kunst und Medien. Bei den regelmäßigen Treffen entstehen dann Ideen wie der Impuls zur Digitalstadt Darmstadt. Oder ganz konkrete Anstöße aus der Wissenschaft für innovative Entwicklungen in der Wirtschaft.

M.-L.W. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Dialog und Transparenz sind ganz entscheidend. Da könnte sich die sogenannte große Politik durchaus mal etwas von Darmstadt abschauen. Die Firma Isra Vision zum Beispiel – das ist eine Ausgründung aus der TU Darmstadt. Genau wie der Batteriehersteller Akasol. Darmstadt zeigt damit, wie man eines der größten Entwicklungsprobleme Deutschlands auflösen könnte, den Transfer von wissenschaftlicher Erkenntnis in wirtschaftlich verwertbare Produkte und Dienstleistungen. Durch Dialog und Vernetzung.

,,Dialog und Vernetzung –
das sind die wichtigsten
Voraussetzungen für zukunftsgerichtete
Problemlösungen.“
Dr. Marie-Luise Wolff

Welche Themen halten Sie dabei für besonders relevant?

M.-L.W. An erster Stelle wiederum den Klimaschutz. Den bringen wir nur schnell genug voran, wenn wir auch in der Technologie-Umsetzung noch schneller werden. Es rennt uns ja die Zeit davon. Das 1,5 Grad-Ziel haben wir ziemlich sicher verpasst. Und das heißt: Es wird ziemlich bald ziemlich heiß werden in einer Stadt wie Darmstadt. Da braucht es dann clevere Lösungen, damit die Menschen hier weiterhin gut leben können. Das fängt bei mehr Bäumen an und hört bei großflächigen Überdachungen heutiger Freiluftplätze noch längst nicht auf. Wir müssen zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern schon heute planen, wie wir demnächst leben wollen.

J.P. Richtig, ein gutes Beispiel dafür ist unser Konzept „Schlaues Wasser“. Das klingt erst einmal merkwürdig, aber genau das brauchen wir in Zukunft. Denn Darmstadt ist bekanntlich arm an Wasser und eine der heißesten Städte Deutschlands. Deshalb sind in den kommenden sechs Jahren schlaue Ideen gefragt, wie wir unsere Stadt langfristig mit sauberem Trinkwasser versorgen und so zum Modell einer wassersensiblen Stadt werden. Was ist schon da?

Was lässt sich reaktivieren? Was muss einfach besser genutzt werden und welche Unterstützung bieten uns digitale Technologien? Auf diese Fragen suchen wir Antworten und zwar wiederum mit allen zusammen: den Expertinnen und Experten aus der Hochschule, aber auch die Bürgerinnen und Bürger können sich mit eigenen Ideen einbringen.

Haben Sie eigentlich international ein Vorbild in Sachen kommunaler Klimaschutz?

J.P. Kopenhagen zum Beispiel. Da hat man den fahrradgerechten Umbau so gestaltet, dass die meisten Menschen dort heute mit dem Rad einfach unkomplizierter und schneller unterwegs sind und deshalb mitmachen. Da braucht es gar keine besondere Klima-Ethik als Motivation, sondern man holt die Leute einfach da ab, wo aktiver Klimaschutz für sie am meisten Sinn ergibt.

M.-L.W. Oder denken Sie an Paris. Vor ein paar Jahren brauchte man auf den großen Boulevards manchmal Stunden, um aus der Innenstadt bis hinaus nach La Defense zu kommen. Jetzt sind die meisten Fahrstreifen frei für Zweiräder und es geht zügiger, vor allem aber menschenfreundlicher voran. Auch das zeigt: Der Wandel ist kommunal!

Herr Partsch, Sie selbst verabschieden sich dieser Tage aus der aktiven Kommunalpolitik, werden die weitere Entwicklung aber sicher aufmerksam beobachten. Wie sieht Ihre Vision für Darmstadt in 20 Jahren aus?

J.P. In 20 Jahren ist Darmstadt klimaneutral. Der Autoverkehr ist bis auf wenige Ausnahmen aus der Innenstadt verschwunden. Alles was wichtig ist – vom Krankenhaus bis zum Museum – kann man in wenigen Minuten zu Fuß, per Rad oder mit dem ÖPNV erreichen. Gleichzeitig hat die Wirtschaft ihren dynamischen wie ökologischen Wachstumskurs fortgesetzt. Die Menschen haben genug und gute Arbeit. Es gibt Kita-Plätze für alle und gute Bildung. Außerdem ist die Demokratie wieder lebendiger – durch Bürgerräte und häufigere Plebiszite. Und: Die Stadt ist endlich an eine ICE-Strecke angebunden, damit man hier nicht nur klimafreundlich leben, sondern auch klimafreundlich verreisen kann. Am besten auch noch pünktlich!

Frau Dr. Wolff, Herr Partsch – besten Dank für das Gespräch.

Eine angelehnte Tür. Man muss
sie öffnen und hindurchgehen, um
auf der anderen Seite die ganze
Schönheit des Lebens zu entdecken.

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